Fuck the Pullis!? Ist Europa noch 'tragbar'?

Es wirkte fast ein bisschen zynisch: Einen Tag vor dem Tag der deutschen Einheit lag einer unserer Europa Pullis in der Post. Eine Rücksendung im Rahmen unseres Rücknahmekonzepts. Keine Kindergröße, wie so häufig, sondern ein kaum getragener Pulli für Erwachsene. Ein Grund für die Rückgabe war nicht angegeben. Und doch schien der azurblaue Pullover mit den zwölf gelben Sternen zu raunen: Sorry Leute, aber keiner will mich gerade tragen... ¯\_(ツ)_/¯

Klar, Europa steckt im Krisenmodus, und das seit Jahren. Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Corona-Krise, nebenher auch noch Krisen in der Außenpolitik wie im Nahen Osten, in Libyen, mit Putin, Erdogan, Lukaschenko, Trump. Und dann sind da noch diverse Krisen unter dem eigenen Dach: Brexit, schwindende Demokratie in Polen, ausgehebelter Rechtsstaat in Ungarn, zunehmender Rechtsruck in nahezu allen Mitgliedstaaten – um nur einige Brandherde zu nennen. Die EU-Kommission in Brüssel ist ebenso seit Jahren im Krisenmodus gefangen: Sie reagiert immer öfters als dass sie agiert. Dabei stolpert sie zuweilen über ihre eigenen Füße – wie zuletzt in der Debatte um Sanktionen für den belarussischen Machthaber Lukaschenko, bei der das kleine Zypern mal eben gemäß dem Einstimmigkeitsprinzip ganz Europa auflaufen ließ. So schlittert seit Jahren eine Kuh nach der anderen über das europäische Parkett. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Unkenrufe, die den Zerfall der EU prophezeien, werden lauter, europafeindliche national-konservative Stimmen ebenso.

Was ist noch übrig vom großen Europäischen Gedanken, aus dem heraus die EU 1993 gegründet wurde und für den sie 2012 sogar den Friedensnobelpreis bekommen hat? Vom Wertekanon, für den sich alle 27 Mitgliedstaaten 2009 mit dem Vertrag von Lissabon verschrieben haben? Dort heißt es nämlich in Artikel 2:

“Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”


Autsch! Allein mit Blick auf die Flüchtlingspolitik der EU schmerz das Lesen dieser Zeilen gewaltig. Was hat die Sicherung der europäischen Außengrenzen mit der Achtung von Menschenwürde zu tun, die billigend in Kauf nimmt, dass Menschen vor Europas Haustür im besten Fall in Elend leben und im schlechtesten Fall im Mittelmeer ertrinken? Würde Europa aus Artikel 2 nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern auch Konsequenzen formulieren, dann würde Moria nicht erst in Flammen auf– und dann im Regen untergehen, weil die Geflüchteten längst auf alle Mitgliedstaaten verteilt wären. Dann gäbe es keine faulen Deals mit einem türkischen Autokraten, der keine Gelegenheit auslässt, die EU zu diffamieren. Dann dürfte kein Kreml-Beamter mehr in die EU einreisen, solange russische Oppositionelle vergiftet oder erschossen werden. Dann könnten arabische Staaten nicht mit deutschen Waffen auf Zivilisten schießen. Dann würden die EU-Länder effektive Maßnahmen ergreifen, um die Klimaerwärmung zu stoppen. Und so scheint Europa mit seinen kühnen Werten zur Zeit nicht mehr wert als das Papier der Verträge, auf denen sie verfasst wurden. Ebenso wenig wie unser symbolträchtiger Pullover. Oder?

Es ist natürlich einfach, die Krisen dieser Welt zu beklagen, mit dem Finger nach Brüssel zu zeigen und frustriert Europa-Shaming zu betreiben. Eine einfache Lösung Europas Probleme gibt es natürlich nicht. Trotzdem oder gerade deshalb ist es meiner Meinung nach wichtiger denn je, Flagge für dieses Bündnis zu zeigen. Denn die blaue Flagge mit den zwölf Sternen verkörpert eine Vision, die im andauernden Krisenabwehrmodus völlig aus dem Fokus gerückt scheint. Die europäische Vision muss endlich wieder Funken sprühen und die Menschen wieder näher zusammen bringen. Das Potential dazu hatte sie damals und sie hat es auch heute noch. Weil der europäische Gedanke großartig ist – und die EU bereits so viel auf die Beine gestellt hat, worauf wir zweifellos stolz sein können. Also ja, wieder rein in die Pullis – Groß wie Klein. Dass wir auch unseren Kindern erklären, was sie da tragen und wofür es steht, kann niemals falsch sein. Egal in welcher Krise Europa gerade steckt. Denn let’s face it: Für Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte gibt es keine Alternative. 

1 Kommentar

Ich glaube an Europa.
Mark Kaminski 19 Oktober, 2020

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